Unendlicher Spaß und digitaler Kapitalismus | Patricia Nitzsche

RöhrenfernsehgerätFoto: Jisun Han | unsplash

 

Unendlicher Spaß und digitaler Kapitalismus

Text: Patricia Nitzsche | veröffentlicht am 21.05.2023

Während der Pandemie habe ich ein Buch wiederentdeckt, das 2021 sein 25. Jubiläum feierte: Infinite Jest (dt. Unendlicher Spaß) von David Foster Wallace (1962–2008). Für mich war es das Buch der Stunde – und zwar nicht nur, weil sich damit sehr, sehr viel Zeit im Lockdown totschlagen ließ. Einerseits weist die Rahmenhandlung einige erstaunliche Parallelen zur Coronakrisenzeit auf: Eine Art mediales Virus bedroht die hyperindividualisierte Gesellschaft, deren Mitglieder ihre Zeit beinahe komplett vor der Glotze verbringen; eine groteske separatistische Gruppe versucht sich dieses „Virus“ zunutze zu machen, um das bestehende System zu zerstören. Und dann sind da noch zwei sehr unterschiedliche Zwangsgemeinschaften, in der die Einzelnen nur mit viel Disziplin ihren wiederholungsschleifenartigen Alltag überstehen. Andererseits ist Infinite Jest einfach zeitlos, weil es auf seine ganz eigene Art die postmoderne Suche nach Sinn oder sogar Erlösung behandelt. Und nicht zuletzt kann der 1996 erschienene Roman sogar dabei helfen, den digitalen Kapitalismus besser zu verstehen.

Wohlgefällige Sedierung

Es ist nicht einfach, Infinite Jest einzuordnen, denn es handelt sich weniger um einen Roman mit stringenter Erzählstruktur als um einen wabernden Organismus, ein in der Zeit und Sprache hin- und herspringendes, überbordend komplexes, bisweilen übertriebenes und, ja, überforderndes Gesamtkonstrukt. Will man es trotzdem versuchen, so spricht vieles dafür, das Buch ins Genre der Dystopischen bzw. Science-Fiction-Literatur einzuordnen. Die Handlung spielt nämlich hauptsächlich mehr als zehn Jahre in der Zukunft, genauer: im von einem Großkonzern gesponserten „Year of the Depend Adult Undergarment“ (Y. D. A. U.), was ungefähr 2009 entspricht. Es werden vielfältige neue Technologien thematisiert, beispielsweise auf dem Gebiet der staatlichen Abfallbeseitigung: Die hier eingesetzte „annular fusion“ ist so effizient, dass sie in einem Teil des neuen Staatenbundes aus USA, Mexiko und Kanada für postapokalyptische Zustände und dadurch wiederum für politische Spannungen sorgt. Eine andere Technologie, die Videotelefonie, konnte sich in der nahen Zukunft, die Foster Wallace beschreibt aufgrund einer Art hysterischer Eitelkeits-Paranoia nicht durchsetzen. Das Kabelfernsehen wiederum wurde von einer neuen Technologie abgelöst, deren Erfolgsrezept darin besteht, die notorisch gelangweilten Zuschauer*innen mit dem Versprechen auf totale Freiheit bei der Programmauswahl vermeintlich aus der Passivität herauszuholen. Und überhaupt spielt sich im Y. D. A. U. längst alles über digitale Verlinkung ab. Die Menschen sind vollends auf den Bildschirm fixiert und beständig auf der Suche nach etwas, das ihnen Zerstreuung und Ablenkung von ihren allzu öden Alltagsverrichtungen bringt – kurz: wohlgefällige Sedierung.

In dieser Situation kommt nun ein Unterhaltungsmedium in Umlauf, dessen Inhalt dermaßen unterhaltsam ist, dass die Person, die auch nur einen Blick hineinwirft, zu nichts anderem mehr in der Lage ist, als sitzenzubleiben und weiterzuschauen, bis nach und nach ihr gesamter Organismus zusammenbricht. Es heißt, die Betroffenen sterben mit einem Lächeln auf den Lippen – happiness is a warm gun, wie The Beatles schon wussten. Kaum verwunderlich, dass sowohl der Geheimdienst als auch separatistische Gruppen großes Interesse daran haben, an diese „samizdat“ genannte Massenvernichtungswaffe heranzukommen.

Die Hauptprotagonist*innen, substanzmissbrauchende Kids einer Tennis Academy und die abgehalfterten Gestalten in der benachbarten Entzugsklinik, bekommen derweil von alldem so gut wie nichts mit.

Unendliches Streaming

Doch Moment mal: Die unablässige Suche nach Zerstreuung/Ablenkung/Sedierung, verknüpft mit einer unbändigen medialen Absorptionskraft – ist das nicht eine frühe Vision von Bingewatching, eine Metapher für das heutige Streaming-Zeitalter? Die Antwort lautet eindeutig: jein. Bei genauerer Betrachtung gibt es nämlich einige entscheidende Unterschiede zwischen dem „samizdat“ in Infinite Jest und dem, was das Internet uns heute anbietet.

Erstens: Die Vorstellung, dass es einem „One-size-fits-all“-Unterhaltungsformat gelingen könnte, ein Individuum so sehr in seinen Bann zu ziehen, dass es sogar dafür sterben würde, erscheint aus heutiger Sicht ungefähr so zeitgemäß wie die Werbeunterbrechung im Acht-Uhr-Blockbuster (zumal es sich beim „samizdat“ auch noch um einen physischen Datenträger handelt). Den Algorithmen sei Dank lassen sich im digitalen Zeitalter passgenaue Angebote unter die individualisierten User*innen bringen – und zwar demonstrativ unaufdringlich und rund um die Uhr. Werbung als 24/7-Grundrauschen.

Zweitens: Der vom „samizdat“ ausgehende tödliche Glotz-Rausch ist an sich natürlich völlig unökonomisch, vergleichbar mit Dealer*innen, die ihren Kund*innen beim ersten Kauf eine tödliche Überdosis verabreichen – kein besonders geschäftsförderndes Vorgehen. Demgegenüber besteht der Erfolg und Appeal des mobilen Highspeed-Internet ja gerade darin, die User*innen so lange wie möglich mit immer neuem und neuartigem Stoff zu versorgen, also die Abhängigkeit aufrechtzuerhalten und zu steigern. Es geht um die Ausdehnung und Ausdifferenzierung der Bedürfnispalette statt der Totalbefriedigung eines bestimmten Bedürfnisses.

Drittens: Mit der passiven Ein-Weg-Unterhaltung des „samizdat“ stößt man in Sachen Kommerzialisierung schnell an Grenzen, die mittlerweile längst gesprengt worden sind. Infinite Jest behandelt gewissermaßen die Ausläufer der zappenden Generation X, die noch daran gewöhnt ist zu konsumieren, was ihr serviert wird. Die swipenden Millennials und ihre Nachfolger*innen geben sich damit nicht mehr zufrieden. Sie fragen sich bewusst oder unbewusst: Warum sollte ich mich darauf beschränken, zwischen dem auszuwählen, was stattfindet, wenn mir die sozialen Medien die Möglichkeit bieten, permanent selbst stattzufinden? Warum sollte ich das Gefühl der inneren Leere mittels passiver Unterhaltungsformate lediglich betäuben, wenn ich die Leere auch aktiv mit etwas Sinnhaftem füllen kann? (Denn irgendeinen Sinn wird das, was ich auf den Social-Media-Plattformen so treibe, schon haben, sonst würden die anderen wohl kaum darauf reagieren, oder? Oder?!) Warum sollte ich nur stumpf konsumieren, wenn ich die Möglichkeit habe, etwas zu kreieren, das bleibt und mich sogar überlebt? Der Spruch „Das Internet vergisst nie“ ist eben nicht nur Mahnung, sondern auch Verheißung.

Entscheidend ist heute also die Kombination aus Streaming und sozialen Medien. Es spricht Vieles dafür, dass sich beide deswegen zu ultimativen Aufmerksamkeitsabsorptionsmaschinen entwickeln konnten, weil sie das Bedürfnis nach passiver Zerstreuung, Ablenkung und Sedierung gleichermaßen zu befriedigen verstehen wie jenes nach dem Gesehen-Werden, also nach Resonanz, Anerkennung und Bestätigung. Die sozialen Medien machen aus Konsument*innen zusätzlich Produzent*innen, die beständig für neuen „Content“ sorgen. Damit bieten sie ganz nebenbei die vermeintliche Lösung für ein Problem an, das die Gesellschaft seit Beginn der Moderne umtreibt: den Bedeutungsverlust von Religion, verbunden mit der Feststellung, dass unser aller Dasein keinerlei höherem (göttlichem) Sinn folgt.

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Digitaler Kapitalismus

So substanziell diese Sinnlücke für die moderne Gesellschaft ist, so wenig haben wir bisher gelernt, sie zu akzeptieren, geschweige denn produktiv mit ihr umzugehen, wie die brutale Durchsetzung der großen politisch-ökonomischen Weltanschauungen in den letzten Jahrhunderten – und bis heute – eindrücklich beweist. Eine dieser Weltanschauungen, die noch immer real existiert, ist der Kapitalismus westlicher Prägung. Er tritt seit jeher mit bestimmten Heilsversprechen an die Menschen heran, darunter jene, wonach stetiges Wirtschaftswachstum zu stetig wachsendem Wohlstand führe sowie jenes, wonach man als Individuum dem Gefühl der inneren Leere entkommen könne, indem man bestimmte Produkte konsumiert und stetig mehr davon in seinen privaten Besitz bringt.

In Bezug auf Letzteres steht heute nicht mehr allein die Vermarktung materieller Produkte im Fokus, wenngleich diese nach wie vor eine Hauptrolle spielen. Entscheidend hinzugekommen ist die Vermarktung immaterieller Produkte, konkret: digitaler nutzerbasierter Daten, die sich im virtuellen Raum generieren lassen, um sie dann zu kommerzialisieren, also zu verkaufen. Selbst wenn man nicht direkt im Online-Shop einkauft, ist man ziemlich sicher mit einer kommerziellen Suchmaschine unterwegs oder man muss, um Webseiten laden oder Plattformen nutzen zu können, der Anzeige von Werbeanzeigen, der Nutzung persönlicher Daten für kommerzielle Zwecke zustimmen etc. pp. So gesehen stellt das mobile Highspeed-Internet die passende Ergänzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems dar. Nachdem der Kapitalismus erfolgreich in den letzten nicht-kommerziellen Flecken dieser Erde vorgedrungen ist, öffnete sich mit dem Internet eine weitere Dimension, die es kapitalistisch zu erschließen galt.

Der digitale Kapitalismus weiß die reichhaltigen Möglichkeiten, die ihm die sozialen Medien für die Vermarktung der nutzerbasierten Daten bieten, perfekt für sich zu nutzen: Werbung ist als solche gar nicht mehr zu erkennen; sie kommt kumpelhaft als „Empfehlung“ daher, die sich direkt an die User*innen als Individuen richtet und nicht mehr an eine anonyme Masse, wie es noch in den 1990er-Jahren der Fall war. (Aber damals verstand man unter „Glotze“ auch noch ein massives Möbelstück, das auf der Schrankwand stand.) Zudem macht sich der digitale Kapitalismus eine nahezu unerschöpfliche Ressource zu eigen, nämlich die geistige wie körperliche Unzulänglichkeit des Menschen. Es gibt schlicht immer etwas zu optimieren, erst recht im direkten Vergleich mit all den schönen und erfolgreichen Menschen, mit denen man in den sozialen Medien permanent konfrontiert ist. Praktischerweise lassen sich die Mittel und Wege, die zum besseren Leben und/oder zum fitteren Körper führen sollen, über die diversen Social-Media-Plattformen gleich mit verkaufen. Nicht zuletzt profitiert der digitale Kapitalismus ganz entscheidend von einem archaischen Belohnungsimpuls, der unmittelbar und sehr viel stärker wirkt als das bloße Zur-Schau-Stellen eines gerade erworbenen materiellen Statussymbols es jemals könnte. War Konsum früher letztlich eine recht einsame Sache, so ist man heute Teil einer großen Community und bekommt für nahezu jede Aktion in den sozialen Medien mindestens Resonanz, wenn nicht sogar Anerkennung oder Bestätigung.

Und so glotzt und tippt das überforderte postmoderne Individuum in sein portables Endgerät, als gäbe es kein Morgen bzw. als könnte die nächste Push-Nachricht irgendeine Form der heimlich ersehnten Erlösung aus der Sinnlosigkeit des eigenen Daseins bringen.

Unendliche Sinnsuche, unendlicher Konsum

Doch mal angenommen, hinter dem nächsten „Ping“ würde sich tatsächlich eine ultimativ verheißungsvolle Botschaft verstecken – was dann? Einfache Antwort: Die Suche nach Sinn oder Erlösung beginnt einfach von vorn. So wenig man Erlösung im Konsum materieller Produkte findet, so wenig wird man sie in den sozialen Medien finden. Nach der Push-Nachricht ist vor der Push-Nachricht. Selbst wenn die Purpose-App endlich anzeigt, dass man den Highscore in Sachen „Become the Best Possible Self“ erreicht hat, wenn das nächste „It’s a Match!“ tatsächlich die lang ersehnte Traumpartnerschaft einläutet oder der eigene Post viral geht und neben explodierenden Follower*innen-Zahlen lukrative Werbedeals einbringt, wird dies nichts anderes zur Folge haben, als dass die Karotte, die uns allen vor der Nase baumelt, einfach durch eine neue ersetzt oder etwas höher gehängt wird.

Genau dieser Mechanismus ist es, den sich der kapitalistische Verwertungsprozess seit je her so erfolgreich zu eigen macht. Er liefert vermeintlich unendliche Mittel zur Bedürfnisbefriedigung, woraus sich sogleich unendlich viele neue Bedürfnisse ergeben. Wenn wir aus dieser Spirale herauskommen wollen (und dass wir das auf kurz oder lang müssen, wird wohl immer offensichtlicher), gilt für uns derselbe Leitspruch wie für die vielen substanzmissbrauchenden und suchtkranken Protagonist*innen in Infinite Jest: Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Wir alle haben ein Suchtproblem. Wir alle stellen die kurzfristige Bedürfnisbefriedigung über die langfristigen Folgen und ergreifen dankbar jedes Mittel, das sich uns bietet, um dem Gefühl der inneren Leere zu entkommen. Dabei ist jede Suche nach Erlösung letztlich vergeblich. ■

Patricia Nitzsche hat Sozialwissenschaften studiert und gehört seit 2010 zur agora42-Redaktion.
Von der Autorin empfohlen:
David Foster Wallace: Infinite Jest (Back Bay Books, 2006)

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