Zeit der Umbrüche – Zeit der Möglichkeitsfenster | Mascha Schädlich

Schild auf einer Demonstration: Zusammen für eine GRÜNE Zukunft – für alleFoto: Markus Spiske | unsplash

 

Zeit der Umbrüche – Zeit der Möglichkeitsfenster

Text: Mascha Schädlich | Konzeptwerk Neue Ökonomie | online veröffentlicht am 17.08.2023

Normal ist, was wir gewohnt sind. Herausfordernd also, dass sich unsere Arbeitsweise, unsere Beziehungsmodelle, unsere Ernährungsweise, die technischen Möglichkeiten und – mit den weitreichendsten Folgen – sogar unser Klima in zunehmendem Tempo verändert. Viele sehnen sich zurück in eine Welt, die verstehbarer und vertrauter ist als der derzeitige Imperativ des immer Neuen, der kürzlich auch noch eine bedrohliche Schwester in Form von unbeherrschbaren Krisen bekommen hat: Pandemien, Naturkatastrophen, Inflation, Krieg. Diese Krisen sind vielleicht nicht so neu, aber sie sind sichtbar wie lange nicht mehr. Die Illusion, wir hätten alles im Griff, ist stark beschädigt.

Unsere Normalität selbst befindet sich in der Krise. Doch unsere kapitalistische Wirtschaftsweise hat schon vor dieser Krise Reichtum für Wenige auf Kosten der Vielen erzeugt und unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstört. Auch wenn die russische Invasion der Ukraine bei vielen das Gefühl erzeugt hat, dass eine lange Periode der Friedenszeit vorbei gegangen ist, hat in den letzten Jahrzehnten immer Krieg geherrscht – nicht zuletzt unter deutscher Beteiligung. Diskriminierung aufgrund von zugeschriebener oder tatsächlicher Herkunft, aufgrund des Geschlechts (oder der Weigerung sich in ein binäres Geschlechtersystem einordnen zu lassen) sowie aufgrund der Klassenzugehörigkeit sind in unserer Gesellschaft tief verwurzelt. Auch wenn wir immer mutiger voranschreiten, um dies zu ändern, haben wir noch einen langen Weg vor uns.

Wenn unsere alte Normalität, gar nicht so gut war, und wir uns in einer Phase von tiefgreifenden Veränderungen befinden, dann ist das vielleicht nicht nur schlecht, sondern auch eine Gelegenheit: Eine Zeit der Umbrüche ist auch eine Zeit der Suchbewegungen und Möglichkeitsfenster. Und indem wir uns diese Veränderungsprozesse aneignen und sie mitgestalten, verlieren sie auch ihre beängstigende und überfordernde Dimension. Stattdessen können sie zu einer spannenden Auseinandersetzung mit der Frage: „Wie wollen wir leben?“ werden: Wie könnte eine neue Normalität aussehen, wenn wir unserer Vorstellungskraft Raum geben und unsere Zukunftsentwürfe nicht von der krisengeschüttelten Gegenwart bestimmen lassen? Dazu möchte ich durch drei Möglichkeitsfenster auf die Zukunft blicken.

Möglichkeitsfenster 1:Vielen Menschen ist längst bewusst, dass das Ende der Verbrennungsmotoren eine klimapolitische Notwendigkeit ist. Unsere Mobilität wird sich verändern müssen. Wir haben die Möglichkeit, weiterhin motorisierten Individualverkehr zu fördern, indem wir auf E-Autos setzen, oder wir widmen uns der übergeordneten Frage: Wie können wir Mobilität sozial und ökologisch gerecht gestalten?

Autos sind an einem Großteil der Verkehrsunfälle in Städten beteiligt und Abgase und Feinstaubbelastung führen jedes Jahr zu tausenden Todesfällen. Dabei bietet der öffentliche Raum ein riesiges Potenzial, die Lebensqualität der Stadtbewohner*innen zu verbessern. Wo Straßen nicht mehr vorrangig für Autos da sind, kann Platz für Begegnung und schattenspendende Bepflanzung entstehen. Anstatt auf einen reinen Antriebswechsel zu setzen, könnten wir eine umfassende Mobilitätswende einleiten. Autofreie Städte würden den Bewohner*innen und ihrer Gesundheit, der gerechten Verteilung des öffentlichen Raums sowie dem Klima- und Artenschutz dienen.

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Möglichkeitsfenster 2: Wohnraum ist in Deutschland sehr ungleich verteilt, sowohl in seiner Qualität als auch in seiner Quantität. Und dadurch, dass die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf kontinuierlich zunimmt, werden Energieeinsparungen durch bessere energetische Standards zunichte gemacht. Dass diesem Problem politisch nicht begegnet wird, liegt daran, dass die Profitinteressen von Immobiliengesellschaften und Finanzwirtschaft einer geringeren Wohnfläche und einer gerechteren Wohnraumverteilung entgegenstehen. Auch in diesem Bereich stellt sich die Frage: Wie könnte Wohnraum sozial und ökologisch gerecht verteilt und genutzt werden?

Durch Vergesellschaftung großer Immobilienunternehmen könnte Wohnraum den Profitinteressen entzogen und stattdessen demokratisch, bedürfnisgerecht und sparsam verteilt werden. Diese Idee ist nicht einmal besonders utopisch, sondern bereits teilweise in kommunalen Wohnungsunternehmen und Genossenschaften verwirklicht.

Möglichkeitsfenster 3: Auch unsere Arbeitswelt befindet sich in einer immer offensichtlicheren Krise. Viele Menschen gehen einer Lohnarbeit nach, die sie für sinnlos oder sogar schädlich halten. Zusätzlich verschärft die Beschleunigung und Verdichtung der Arbeitsvorgänge die Entfremdung von uns selbst und anderen und löst Stress und Unzufriedenheit oder gar Burn-out und Depressionen aus. Die Norm des Acht-Stunden-Tages wurde vor mehr als 100 Jahren eingeführt, inzwischen haben aber die Globalisierung sowie der soziale und der technische Wandel die Arbeitswelt erheblich verändert. Unterdessen erfahren aber auch heutzutage Sorgetätigkeiten wie Kochen, Putzen oder Kinderbetreuung in unserer Gesellschaft weder finanziell noch sozial eine angemessene Wertschätzung. Insbesondere in Anbetracht dessen, dass diese „reproduktive“ Arbeit die Grundlage dafür ist, dass überhaupt „produktiver“ Arbeit, also Lohnarbeit, nachgegangen werden kann. Stattdessen findet Sorgearbeit unter prekarisierten Bedingungen statt und gilt als unerschöpfliche, kostenfreie Ressource.

Obwohl sich die Transformation unserer Arbeitswelt vor allem in Flexibilisierung, Digitalisierung und Entgrenzung zeigt, ist eine Modernisierung in eine ganze andere Richtung sowohl möglich als auch wünschenswert: ein kollektive Arbeitszeitverkürzung auf 28 Stunden in einer Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. Längerfristig könnte ein Reduktionspfad hin zu 20 bis 25 Wochenstunden angestrebt werden, um Arbeit und verfügbare Zeit noch stärker umzuverteilen und den Menschen ausreichend Zeit für Freunde und Familie, politisches Engagement und lebenslanges Lernen zu geben.

Wie die neue Normalität einer Zukunft für alle aussehen kann, liegt an uns: Was können wir uns vorstellen und was fordern wir ein? Wofür gehen wir auf die Straße und was erkämpfen wir politisch? Die Möglichkeiten, sich zu engagieren, sind vielfältig: Wenn wir uns für eine andere Mobilität einsetzen wollen, können wir bei Initiativen und Vereinen wie dem Allgemeinen Deutsche Fahrrad-Club (ADFC), dem Verkehrsclub Deutschland (VCD) oder bei den Gruppen „Am Boden bleiben“ und „Sand im Getriebe“ aktiv werden. Für eine gerechte Wohnraumverteilung setzt sich bekanntermaßen die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ ein. Auch das Mietshäuser Syndikat, die Solidarische Wohnungsgenossenschaft (SoWo) Leipzig, das Projekt „Planbude“ und das Maßnahmenprogramm „Rotes Berlin“ sind gute Adressen für alle, die sich für gerechte Wohnraumverteilung interessieren. Gewerkschaften, dem Netzwerk Care Revolution oder der 4-Stunden-Liga kann sich anschließen, wer an der Transformation unserer Arbeitswelt mitwirken will. ■

Bausteine für Klimagerechtigkeit

Die genannten Beispiele für mögliche Transformationsprozesse sind aus unserem Buch Bausteine für Klimagerechtigkeit entnommen. Die Bausteine sind konkrete klimapolitische Maßnahmen, die auf die strukturelle Veränderungen unseres wachtumsabhängigen, profitorientierten und globalisierten Wirtschaftssystems zielen. Im Sinne einer revolutionären Realpolitik sind sie erste Schritte, auf die weitere folgen müssen, um eine gute Zukunft für alle zu ermöglichen.
Weitere Hinweise zum Buch sowie zur dazugehörigen Crowdfunding-Kampagne gibt es hier: https://www.oekom-crowd.de/projekte/bausteine-fuer-klimagerechtigkeit/
Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 3/2023 NORMALITÄT in der Rubrik ZUKUNFT FÜR ALLE erschienen.
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Wie wollen wir 2048 leben? Wie werden wir wohnen, arbeiten, essen, uns fortbewegen? Wie können wir eine Zukunft gestalten, die gerecht und ökologisch ist?
In der Rubrik Zukunft für alle erkunden wir in Kooperation mit dem Konzeptwerk Neue Ökonomie e. V. Wege zu neuen Wirtschafts- und Lebensweisen jenseits der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft. Das Konzeptwerk Neue Ökonomie e. V. setzt sich für eine soziale, ökologische und demokratische Wirtschaft und Gesellschaft ein. Es eröffnet Bildungs- und Austauschräume rund um Themen des sozialökologischen Wandels und will zeigen, dass alternative Wirtschaftsformen schon heute existieren und als Anknüpfungspunkte für diesen Wandel dienen.
Mascha Schädlich
Mascha Schädlich ist Klimaaktivistin und Feministin und beschäftigt sich im Konzeptwerk Neue Ökonomie mit gesellschaftlichen Utopien und sozial-ökologischen Perspektiven auf Digitalisierung.

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