Keine Einstellungsfrage: Infrastrukturen als kollektive Bedingungen nachhaltigen Lebens | Sighard Neckel

StraßenbahnFoto: Marek Rucinski | Unsplash

 

Keine Einstellungsfrage: Infrastrukturen als kollektive Bedingungen nachhaltigen Lebens

Text: Sighard Neckel

Grüner Konsum wird immer einfacher – und doch verändert sich dadurch sehr wenig und dieses Wenige geht viel zu langsam. Die Fokussierung auf individuelle Lebensstile lenkt davon ab, dass sich Nachhaltigkeit nur als kollektives Gut nachhaltiger Infrastrukturen realisieren lässt.

Im März 2021 hat das Bundesverfassungsgericht in einem bemerkenswerten Urteil die Regierung verpflichtet, die eigenen Klimaziele deutlich zu erhöhen. Grundlage aller politischen Entscheidungen müsse künftig das maximale Treibhausgasbudget sein, das Deutschland gemäß den Pariser Klimabeschlüssen noch zur Verfügung steht. Dieses maximale Emissions-Budget umfasst etwa 6,7 Gigatonnen CO2-Äquivalente. Würde Deutschland weiterhin – wie etwa im letzten „Vor-Corona-Jahr“ 2019 – jährlich 0,71 Gigatonnen CO2 ausstoßen, wäre das verfügbare Budget bereits 2029 verbraucht. Deutschland befände sich auf einem Pfad, der am Ende des 21. Jahrhunderts zu einer Temperaturzunahme von 3,0 bis 4,5º Celsius führen könnte.

In Deutschland ist die mittlere Jahrestemperatur bereits heute um 1,6° Celsius gestiegen. Als Folge davon gehörte Deutschland 2018 erstmals zu den drei am stärksten von Extremwettern betroffenen Ländern der Welt. Hitzewellen, Grundwasserknappheit, die Austrocknung von Böden, das Absterben des Baumbestands und zunehmende Überschwemmungen sind die schon jetzt sichtbaren Folgen.

Vollkommen unberechenbar sind auch die globalen Folgen der Erwärmung und der weltweiten Zerstörung von Ökosystemen. Sie würden aller Voraussicht nach massive Migrationsbewegungen aus den Hitzezonen des globalen Südens in die noch erträglichen Gebiete der Nordhalbkugel auslösen, da die Lebensgrundlagen jenseits des Äquators für große Bevölkerungen weitgehend ruiniert wären. Ressourcenkämpfe um Wasser, Boden, Nahrungsmittel und die Bewahrung von Lebenschancen könnten endlose Ketten kriegerischer Auseinandersetzungen entfesseln und auch demokratische Staaten in ökologische Notstandsregime mit diktatorischen Zügen verwandeln.

Die Klimakrise und die Anrufung der Einzelnen

Wenn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nunmehr das Tor zu einer halbwegs glaubwürdigen gesamtstaatlichen Verantwortung für den Klimaschutz aufgestoßen hat, so trifft der höchstrichterliche Auftrag für einen staatlich gerahmten Umbau von Grundversorgung, Produktion und Infrastruktur auf eine öffentliche Diskussion, in der die Begrenzung des Klimawandels vor allem als individuelle Aufgabe eines jeden Einzelnen begriffen wird. Unzählig die Aufrufe zur Einschränkung und zum Verzicht oder dazu, verantwortlich zu konsumieren und so die Rettung der Erde zum persönlichen Anliegen zu machen.

Nun ist unbestreitbar, dass individuelles Verhalten mit gesellschaftlichen Strukturen in einem engen Zusammenhang steht. Ohne Frage reproduzieren Lebensformen die grundlegenden Funktionsweisen, wie in einer Gesellschaft gewirtschaftet, gearbeitet, konsumiert und Natur genutzt wird. Und sicher müssen sich viele alltägliche Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Routinen ändern, die heute noch auf einem schonungslosen Umgang mit der Umwelt beruhen. Jeder Systemwechsel, auch ein ökologischer, bedarf zu seiner Realisierung der Verankerung in den Alltagswelten der Menschen. Die Frage ist nur, wie dies am nachhaltigsten und möglichst schnell erreicht werden kann.

Willensschwäche?

Die Appelle an die Bürgerinnen und Bürger, zugunsten der Umwelt und für das Klima auf Flugreisen, Fleischverzehr, All-inclusive-Tourismus und exzessiven Konsum zu verzichten, stellen vielfach auf einen notwendigen Einstellungswandel ab. Ökologische Sorglosigkeit wird als Ursache des massiven privaten Ressourcenverbrauchs begriffen. Zunehmendes Wissen über die Umweltschäden des eigenen Lebensstils soll zu einer Verhaltensänderung durch vernünftige Einsicht führen. Allerdings ist hierbei die Enttäuschung schon vorprogrammiert. Seit Langem ist etwa der Umweltforschung bekannt, dass vermehrtes Wissen um ökologische Gefährdungen keine hinreichende Voraussetzung dafür ist, das Umweltverhalten von Akteuren nachhaltig zu verändern. In den letzten Jahrzehnten ist die allgemeine Kenntnis über Umweltgefahren immens gestiegen, ohne dass dies am Klimawandel, dem Artensterben und dem Verlust an Biodiversität irgendetwas geändert hätte.

Eine zweite Option ist moralischer Druck, ausgeübt etwa beim meat shaming oder der öffentlichen Missbilligung von Flugreisen. Diese Vorgehensweise läuft aber Gefahr, mit der sozialen Verachtung von jenen verbunden zu sein, die sich dem grünen Lebensstil nicht anschließen können oder dieses nicht wollen, weil sie sich etwa den Symbolen der moralischen Überlegenheit nicht unterwerfen möchten, die eine ökologische Lebensführung nicht selten für sich reklamiert.

Seit Aristoteles kennt die Philosophie das willensschwache Handeln wider besseres Wissen als Akrasia. Die willensschwache Person weiß um das Gute, nur ist es ihr im Moment des Handelns nicht präsent, weshalb sie im Handlungsmoment einer Unterstützung, einer Erinnerung, eines Anreizes bedarf, das Gute tatsächlich zu tun. Die soziologische Praxistheorie geht hier nüchterner vor: Maßgeblich für Praktiken auch des Konsums sind demnach Routinen und Gewohnheiten auf der Subjektseite, die sich mit Standards, Konventionen, Möglichkeiten und Infrastrukturen auf der Seite von Märkten, Institutionen und Funktionssystemen verschränken.

Ändern sich die materiellen und konventionellen Rahmenbedingungen des alltäglichen Handelns, wird dieses selbst in Bewegung gesetzt. Das Individuum muss nicht erst zu einem besseren Menschen erzogen werden, bevor es das ökologisch Richtige tut. Es tut es, indem es neue Möglichkeiten nutzt, und sich dadurch auch selbst verändert.

Die Fehlschlüsse des ökologischen Fußabdrucks

Das CO2-Budget, das Deutschland noch verbrauchen darf, um die globale Erwärmung unter 2º Celsius zu halten, wird regierungsamtlich nicht als nationales Gesamtbudget kommuniziert. Stattdessen verwenden Politik und Medien den Durchschnitt eines individuellen CO2-Budgets, um Umweltbelastung und Verzichtsanforderungen zu begründen. Laut Umweltministerium erzeugte jede in Deutschland lebende Person 2019 einen ökologischen Fußabdruck von 11,61 Tonnen CO2-Äquivalenten, fast doppelt so viel wie im globalen Durchschnitt, der bei 6,66 Tonnen liegt. Um die Pariser Klimaziele zu erreichen, müssten die CO2-Emissionen pro Kopf in Deutschland auf 2,5 Tonnen bis 2030 sinken. Allein in den nächsten zehn Jahren ergäbe sich damit eine notwendige Reduktion in der Treibhausgasbilanz jedes Einzelnen um 80 Prozent.

Fasst man die Erreichung dieser Ziele als individuelle Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger auf, gerät Klimaschutz sofort an seine gesellschaftlichen und auch stofflichen Grenzen. Weder Verzicht und Askese noch die Umstellung auf nachhaltigen Konsum können realistischerweise solche Minderungen in der persönlichen Öko-Bilanz erbringen. Bereits ein Student, der ein geringes Einkommen hat und wenig konsumiert, mit mehreren Mitbewohnerinnen auf engem Raum lebt, kein Auto besitzt, das Fahrrad oder den öffentlichen Nahverkehr nutzt und keine Flugreisen unternimmt, kommt heute auf etwa 5,4 Tonnen CO2 im Jahr und liegt damit um mehr als das Doppelte über der 2030 angestrebten Ökobilanz.

Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr und Gebäude setzten 2020 fast 90 Prozent aller Treibhausgasemissionen in Deutschland frei. Zusammengenommen gehen dadurch etwa 83 Prozent an CO2-Äquivalenten auf energiebedingte Emissionen zurück, insbesondere auf die Verbrennung fossiler Brennstoffe wie Kohle, Erdöl und Gas. Angesichts dessen stellt sich das individuelle Bemühen um ökologische Nachhaltigkeit als vergebliche Anstrengung heraus, weil es von den existierenden Infrastrukturen schlichtweg nicht zugelassen wird.

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Klimakrise und soziale Gerechtigkeit

Die individuellen Durchschnittswerte der Umweltbelastung, auf die (nicht nur) die Regierung sich stützt, täuschen darüber hinweg, dass die Emissionen tatsächlich sozial höchst ungleich verteilt sind. Für die Länder der Europäischen Union hat die Entwicklungsorganisation Oxfam kürzlich die Emissionen verschiedener Einkommensgruppen berechnet. Demnach waren in Deutschland zwischen 1990 und 2015 die einkommensstärksten zehn Prozent aller Haushalte für mehr als ein Viertel (26 Prozent) der CO2-Emissionen verantwortlich und damit für fast genau so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung zusammen (29 Prozent).

Deutlich wird die sozialstrukturelle Dimension der Umweltbelastung auch beim öffentlichen Reizthema des Fliegens. Allgemein wird dessen Bedeutung für die Klimakrise überschätzt, trägt der gesamte globale Passagierflugverkehr doch allenfalls drei bis vier Prozent zu den Treibhausgasemissionen bei. Auch den reisefreudigen Durchschnittsdeutschen werden in der individuellen CO2-Bilanz nur 5,8 Prozent ihrer Treibhausgase durch Flugreisen in Rechnung gestellt. Doch während der typische Mallorca-Urlaub für die öffentliche Flugscham herhalten muss, sind es tatsächlich nur etwa fünf Prozent der deutschen Bevölkerung, die – meist geschäftlich – deutlich häufiger als der Durchschnitt fliegen und damit auch den Durchschnittswert des CO2-Ausstoßes beim Flugverkehr insgesamt wachsen lassen. Die Business-Class hat ein Flugproblem, viel weniger die Holzklasse im Ferien-Flieger.

Nicht anders stellt es sich bei den Einsparungen von Emissionen dar. Zwischen 1990 und 2015 konnten diese EU-weit um circa 25 Prozent reduziert werden, was sich vor allem einer erhöhten Energieeffizienz verdankt. Die ärmste Hälfte der Haushalte reduzierte ihren CO2-Ausstoß dabei um fast ein Viertel (24 Prozent), diejenigen mit mittlerem Einkommen um 13 Prozent. Im Gegensatz dazu legten die reichsten zehn Prozent der Haushalte in der EU um drei Prozent, das reichste Prozent sogar um fünf Prozent zu.

Ohne soziale Differenzierung werden bei den ökologischen Verzichtsforderungen also gerade jene breiten Bevölkerungsgruppen in Haft genommen, die deutlich geringer zu den Treibhausgasen beitragen und deutlich mehr an CO2 in den letzten Jahrzehnten eingespart haben. Damit wird auch in Ländern wie Deutschland der Klimawandel zu einem Gerechtigkeitsproblem, an dem sich soziale Konflikte um die faire Verteilung von Lasten entzünden. Weltweit ist dies ohnehin der Fall, verursacht das reichste ein Prozent der Weltbevölkerung doch mehr als doppelt so viele klimaschädliche Emissionen wie die ärmere Hälfte der Menschheit zusammen.

Doch selbst bei den Superreichen dieser Welt führt eine Fixierung auf den individuellen CO2-Ausstoß nicht wirklich weiter. Der Ressourcenverbrauch ihrer Traumvillen, Privatjets und Luxusjachten, so exorbitant er auch sein mag, ist weit weniger von Belang als die gewaltigen Emissionen, welche die Unternehmen ausstoßen, die den Superreichen gehören: Mehr als die Hälfte der industriellen Treibhausgasemissionen gehen auf nur 25 weltweit agierende Unternehmen zurück.

Nachhaltigkeit als kollektives Gut

Die Individuen und ihre Lebensstile zum Dreh- und Angelpunkt eines ökologischen Wandels zu machen, greift entschieden zu kurz. Durch die Zurechnung von Umweltbelastungen auf die Einzelnen werden die Ursachen ökologischer Schäden individualistisch verzerrt, die sozialstrukturellen Einflussfaktoren ausgeblendet, die Notwendigkeit eines schnellen strukturellen Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft von der politischen Agenda verdrängt. Nachhaltigkeit verdünnt sich zur Attitüde eines besonderen ökologischen Lebensstils mit moralischen Extraprofiten. Dies bringt soziale Milieus gegeneinander auf, die zur Lösung der dringendsten Umweltprobleme aber eigentlich gesellschaftlicher Bündnisse bedürften.

Verwandelt sich Klimaschutz in eine eigenverantwortliche Aufgabe der Person, wird er von der öffentlichen in die private Sphäre verschoben. In der Umweltpolitik wird dem ökologischen Fußabdruck gerade deswegen so viel Gewicht beigemessen, weil er die Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht nimmt, während es doch Regierungen sind, die den ökologischen Wandel entschlossen in Angriff nehmen sollten. Der private Konsum- und Lebensstil wird so von den materiellen Infrastrukturen der Gesellschaft getrennt, die ihn doch erst ermöglichen können. All dies lenkt davon ab, dass in kurzer Zeit die großen Systeme von Energie, Produktion und Verkehr klimagerecht umgebaut werden müssen, wovon dann auch die CO2-Bilanz aller profitiert.

Wirksamer und überdies sozial gerechter ist es daher, Nachhaltigkeit als ein kollektives Gut nachhaltiger Infrastrukturen zu organisieren, deren Funktionen ökologisch verträglich gestaltet werden und deren Nutzung prinzipiell allen Bürgern offensteht. In seinem Urteil zum Klimaschutz hat das Bundesverfassungsgericht eben solche Strukturveränderungen angemahnt. Sie können nur durch eine staatliche Ordnungspolitik durchgesetzt werden, die materielle Infrastrukturen in öffentliche Güter überführt, wo privatwirtschaftliche Interessen der Sache des Klimaschutzes entgegenstehen.

Dieser Beitrag ist in agora42 3/2021 DAS GUTE LEBEN in der Rubrik TERRAIN erschienen. Darin werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.
Sighard Neckel
Sighard Neckel ist Professor für Soziologie, insbesondere Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel, an der Universität Hamburg und leitet die dortige DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Zukünfte der Nachhaltigkeit“. Zuletzt zum Thema erschien (hg. mit Frank Adloff) Gesellschaftstheorie im Anthropozän (Campus, 2020).
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