Was ist Wirtschaftskompetenz und wer hat sie? | Reinhard Loske

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Was ist Wirtschaftskompetenz und wer hat sie?

Text: Reinhard Loske | Gastbeitrag | veröffentlicht am 04.11.2024

Es gehört keine prophetische Gabe dazu, um heute vorauszusagen, dass der Bundestagswahlkampf im kommenden Jahr in hohem Maße von Wirtschaftsfragen geprägt sein wird. Auch gehört nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, welches die Bilder, Erzählungen und Grundmelodien der verschiedenen Parteien in Sachen Revitalisierung der Ökonomie sein dürften.

Die den Kanzler stellende Sozialdemokratie wird das Hohelied von Nachfragestimulierung, Industriepolitik und Infrastrukturausbau, Steuergerechtigkeit, „Deutschlandtempo“ und großzügigen staatlichen Zuschüssen für erwünschte Investitionen und Innovationen anstimmen. Man wolle den Stolz auf „Made in Germany“ fördern, heißt es im Wirtschaftspapier des SPD-Parteivorstandes von Mitte Oktober. Nicht zu vergessen: 95 Prozent der Menschen sollen entlastet werden, der Mindestlohn pro Stunde auf 15 Euro steigen. Hauptbotschaft: Wir kriegen die Transformation mit „guter Arbeit“ hin, auf Zumutungen an die Bürgerinnen und Bürger kann weitestgehend verzichtet werden.

Die den Wirtschaftsminister stellenden Bündnisgrünen werden das grüne Wachstum preisen, wie die Sozialdemokraten öffentliche Investitionen und Zuschüsse zu privaten Investitionen, Verfahrensbeschleunigungen und höhere Steuern für „Superreiche“ einfordern, den großen Stellenwert der Zuwanderung für die Bekämpfung des Fachkräftemangels in Industrie, Mittelstand und Sorgeberufen herausstellen und die „Fesseln“ der Schuldenbremse lockern wollen. Von ökologischen Grenzen des Wachstums oder gar einem notwendigen Verzicht auf Überflüssiges werden sie trotz global eskalierender Umweltkrisen aller Art wohl eher nicht sprechen. Die Befürchtung: Das könnte den Boulevard zu sehr reizen.

Ein anderes Verständnis von Wirtschaftswende werden Liberale und Union präsentieren. Es wird vom heftigen Beklagen der vermeintlich ampelinduzierten Wachstumsschwäche über das Lob des freien Unternehmertums und des Wettbewerbs bis zur Verbesserung der Angebotsbedingungen für die Wirtschaft reichen, womit vor allem Deregulierung, Unternehmenssteuersenkungen, die Kürzung von Transferleistungen und die Umschichtung von konsumtiven zu investiven Staatsausgaben gemeint sind.

Aus der jüngsten Diskussion ums sogenannte Bürgergeld, dem die FDP im Bundeskabinett und die Union im Bundesrat noch Ende 2022 zugestimmt haben, lässt sich die erwartbare Melodie für den kommenden Wahlkampf leicht heraushören: Es soll wieder mehr gearbeitet werden, die vermeintlich Unwilligen sind unter Druck zu setzen und für den Arbeitsmarkt zu „aktivieren“. Gerhard Schröder, der Protagonist des Förderns und Forderns, darf in den kommenden Monaten mit viel Lob von Konservativen und Liberalen rechnen. Es wird ihn freuen.

Die Populisten von rechts und links wiederum werden, so ist zu erwarten, im Hase-und-Igel-Wettlauf um die Gunst der Wirtschaft und der „ehrlich und hart arbeitenden“ Bevölkerung stets die Rolle des Igels einnehmen, der am Ende ruft: „Das reicht nicht!“. Für was es nicht reicht, wird dabei im Unbestimmten bleiben. Verlassen darf man sich aber wohl darauf, dass die AfD und – in rhetorisch abgemilderter Form – das BSW die vermeintlichen „deutschen Interessen“, die „guten alten Zeiten“ und den „gesunden Menschenverstand“ hochleben lassen und gegen andere und anderes in Stellung bringen werden: Deutsche Arbeitnehmerinteressen gegen Migranten und „ausländische“ Spekulanten, deutsche Hochqualitätsautos gegen asiatische Billigautos, deutsche Kohle (und russisches Gas) gegen Wind- und Sonnenenergie, deutsche Freundschaft mit Putin und deutsche Geschäftsinteressen in China gegen universelle Werte wie Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, deutsche Vernunft gegen Brüsseler „Regulierungswahnsinn“. Und so weiter. Man kennt das zur Genüge.

Die Linke, sollte es sie im nächsten Jahr auf Bundesebene als relevante politische Größe noch geben, wird ihre vertrauten Songs von Teilverstaatlichungen, Umverteilung, öffentlichen Investitionen und Mindestlohnerhöhung zum Vortrage bringen. Auch das ist nachvollziehbar und darf in gewissem Umfang sogar als konsumstimulierend und somit wachstumsfördernd gelten, allein weil untere und mittlere Einkommensgruppen eine wesentlich höhere Konsumquote aufweisen als diejenigen, die hohe oder sehr hohe Einkommen erzielen.

Wirtschaftskompetenz als Faktor im Wahlkampf

Wenn aber klar ist, dass die Wirtschaft im heraufziehenden Wahlkampf eine Schlüsselrolle einnehmen wird, und die wirtschaftspolitischen Grundorientierungen der Parteien zugleich mehr oder minder festgelegt und bekannt sind, dann rückt die Frage nach der tatsächlichen oder zugeschriebenen Wirtschaftskompetenz in den Mittelpunkt.

Was aber ist heute Wirtschaftskompetenz? Ist sie noch identisch mit dem, was darunter vor siebzig, fünfzig, fünfundzwanzig oder zehn Jahren verstanden wurde? Sollte man sich an Altvordere wie Ludwig Erhard oder Karl Schiller halten und noch einmal grundsätzlich über die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft sprechen, auch um die Unterschiede zum Konzept der „Deutschland AG“ mit seinem ausgeprägten Hang zu Korporatismus und Globalsteuerung zu erkennen? Geht es wirklich darum, dass die einen es der Industrie rechtmachen, die anderen dem Mittelstand, den Familienunternehmen und den Freiberuflern und wieder andere den Gewerkschaften oder den Verbraucherinnen und Verbrauchern?

Oder heißt Wirtschaftskompetenz heute nicht etwas anderes als gestern und vorgestern, vor allem Realitätsanerkennung und Transformationsbereitschaft, Abkehr von einseitiger Industriefixierung und Hinwendung zu pluralen Wirtschaftsformen, Wirtschaftsstilen und Wirtschaftsstrukturen, von einseitiger Wachstumsfixierung zu nachhaltigen Produktions-, Konsumtions- und Dienstleistungsstrategien, von einseitiger Wettbewerbsfixierung zu einer gleichermaßen kompetitiven wie kooperativen Mischwirtschaft, von einseitigem Short-Termism zum zukunftsfähigen Wirtschaften?

Fragen über Fragen. Es ist deshalb an der Zeit, den unbestimmten Begriff der Wirtschaftskompetenz näher zu definieren und zugleich politisch operabel zu machen. Das setzt einerseits Differenzierung voraus, erfordert andererseits aber auch Zuspitzungspotenzial. Hier soll deshalb versucht werden, den Begriff der Wirtschaftskompetenz aufzufächern und für den politischen Raum in seine Bestandteile zu zerlegen. Meine These: Wirtschaftspolitische Kompetenz braucht fachliche, systemische und kommunikative Kompetenz gleichermaßen, wobei diese Kompetenzformen eng miteinander zu verweben sind.

Fachliche Wirtschaftskompetenz

Es gehört zu den vertrauten Klageliedern von Unternehmerpersönlichkeiten, Unternehmensverbänden und Wirtschaftsjournalistinnen und -journalisten, dass es in unseren Parlamenten und Regierungen an Wirtschaftskompetenz mangele, weil sich dort kaum Unternehmerinnen und Unternehmer fänden und auch nicht sonderlich viele akademisch ausgebildete Betriebs- und Volkswirte oder Kaufleute. Da der weit überwiegende Teil der Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst, Verbänden und Parteiapparaten stamme, gebe es quasi eine implizite Unterbelichtung oder gar Geringschätzung von wirtschaftlichen Notwendigkeiten und Zusammenhängen.

Man kann dieses Lamento, wie Bundeskanzler Olaf Scholz es erst jüngst getan hat, mit dem Hinweis herunterspielen, die Klage sei nun einmal der Gruß des Kaufmanns. Als ehemaliger Bremer Senator kann ich diese Einschätzung aus eigener Erfahrung nur zu gut nachvollziehen und interpretiere sie vor allem als ironische Selbstbehauptung der Politik gegenüber starken Partikularinteressen. Man kann die Unterrepräsentanz von Menschen aus dem Wirtschaftsleben in der Politik aber auch als ernsthaftes Problem anerkennen und Vorschläge machen, wie dies zu ändern wäre.

Der Unternehmensberater und Wirtschaftspublizist Daniel Stelter etwa plädiert dafür, dass die Parteien nur noch Kandidatinnen und Kandidaten mit einer beruflichen Mindesterfahrung aufstellen und gleichzeitig die Anzahl der Legislaturperioden, in denen man während seines Lebens Abgeordnete/r sein kann, auf drei begrenzt wird. Seine Hoffnung: „Damit wäre von Anfang an klar: Politik ist eine Berufung, aber kein Beruf.“ So kann man die Sache sehen, selbst wenn die Erfolgsaussichten für diesen leicht unterkomplexen Vorschlag angesichts der eingeübten Routinen des Parteiensystems mit seinen Rekrutierungsverfahren nicht sonderlich hoch sein dürften. Ein Blick in Max Webers „Politik als Beruf“ von 1919 könnte helfen, sich zum Verhältnis von Berufung und Beruf ein etwas differenzierteres Urteil zu bilden.

Ganz unabhängig von der Positionierung in vorgenannter Frage muss aber festgestellt werden, dass Erfahrungen als Ökonomieprofessorin, Konzernmanager oder Chef eines Handwerksbetriebes noch keinen guten Wirtschaftspolitiker ausmachen.  Sicher, es mag hier und da helfen, zu wissen, was ein Pareto-Optimum oder das Saysche Theorem ist, was realistische Kosten-Nutzen-Analysen ausmacht, wie man Kunden durch guten Service an sich bindet oder durch innovative Distributionskonzepte neue Märkte erschließt. Aber in diesen gesellschaftlichen Subsystemen herrschen nun einmal andere Logiken als in der Wirtschaftspolitik im Konkreten und der Gesamtpolitik im Allgemeinen.

Das ist kein Argument gegen die stärkere Repräsentanz von Menschen aus der Sphäre des Realwirtschaftlichen in unseren Parlamenten. Es ist aber sehr wohl ein Hinweis darauf, dass sich aus ökonomischen Theorien, die mit vereinfachten Annahmen arbeiten und den Menschen im Wesentlichen auf die Rolle eines individuellen Nutzenmaximierers („Homo oeconomicus“) reduzieren, noch keine gute Politik für die Gesamtwirtschaft ergibt. Volkswirtschaftslehre („Economics“) ist eben nicht Betriebswirtschaftslehre („Business Management“). Was einzelwirtschaftlich rational sein kann, etwa das unternehmerische Streben nach einer marktbeherrschenden Stellung oder die Externalisierung von Kosten, ist für die Gesellschaft insgesamt nicht akzeptabel, ja sogar schädlich. Was für ein Familienunternehmen oder einen Haushalt sinnvoll erscheinen mag, etwa die Schuldenfreiheit bzw. die ausschließliche Finanzierung von Investitionen aus selbst Erwirtschaftetem, kann für die Gesamtwirtschaft kritisch sein, weil es heute Notwendiges in die Zukunft verschiebt. Der erhebliche Modernisierungs- und Sanierungsstau in der Verkehrs-, Energie- und Kommunikationsinfrastruktur und im öffentlichen und privaten Gebäudebestand sowie der Zustand unseres Bildungssystems sind hierfür mahnende Beispiele.

Kurzum: Fachliche Wirtschaftskompetenz im engeren Sinne, also das Wissen um mikro- und makroökonomische Zusammenhänge, um Menschen und Märkte, Freiheiten und Regeln, Erwartungen und Unsicherheiten, ist in wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozessen von essenzieller Bedeutung, allein um sich als Abgeordneter oder Minister nicht von Lobbyisten über den Tisch ziehen zu lassen oder Gefangener der eigenen „Fachleute“ zu werden, die oft vorgefertigten Denkmustern folgen. Aber eine formale Wirtschaftsausbildung ist keine Voraussetzung dafür, ein guter Wirtschaftspolitiker zu sein. Literaturwissenschaftler, Volkswirte, Lehrer oder Juristen können gute oder schlechte Wirtschaftsminister sein.

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Systemische Wirtschaftskompetenz

Neben fachlichem Urteilsvermögen muss sich Wirtschaftskompetenz in Zukunft verstärkt durch systemisches Denken auszeichnen. Das sollte mit einem zeitgemäßen Verständnis der Staat-Markt-Beziehungen anfangen, über die realistische Beurteilung systemischer Wettbewerbsbedingungen in einem veränderten geoökonomischen und geopolitischen Umfeld führen und bis zu der Einsicht reichen, dass das ökonomische System stets ein in die Gesellschaft und die Natur eingebettetes ist und keineswegs neben oder über diesen steht. Integration statt Separation muss deshalb die Devise lauten, Gesamtschau statt Partikularismus, volkswirtschaftliche Resilienz statt allein betriebswirtschaftlicher Effizienz.

Der alles andere als normativ argumentierende Bielefelder Systemtheoretiker Niklas Luhmann warnte in seinem Buch „Die Wirtschaft der Gesellschaft“ schon 1984 davor, die Ökonomie auf die Dimension der Rechenhaftigkeit zu begrenzen. Bei ihm heißt es: „Die moderne Wirtschaft beschreibt sich selbst durch Preise und durch Informationen über Preise. Das mag in der Wirtschaft genügen … In der Gesellschaft genügt es nicht, … (weil) Informationen über die Auswirkungen der wirtschaftlichen Operationen in der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt der Wirtschaft systematisch zu wenig Berücksichtigung finden. Der Erfolg der Wirtschaft gefährdet Gesellschaft und Natur.“ 

Nimmt man Luhmanns Überlegung als Ausgangspunkt, ergibt sich daraus sachlogisch, dass Politik Rahmenbedingungen für die Wirtschaft schaffen muss, die einerseits ihre Potenzialentfaltung ermöglichen, andererseits aber auch ihre destruktiven Wirkungen auf Gesellschaft und Natur zu vermeiden oder mindestens zu begrenzen trachten. In diesem Spannungsfeld zu agieren und das richtige Mischungsverhältnis aus Marktautonomie und staatlicher Intervention zu finden, ist keine triviale Aufgabe und wird allein deshalb Kontroversen aller Art befördern. 

Die Kunst besteht darin, diese Kontroversen für die Öffentlichkeit nachvollziehbar zu führen und dabei weder Ohnmachts- noch Allmachtfantasien zu kultivieren. Eine Attitüde, die in der Setzung politischer Rahmenbedingungen für Unternehmen und Märkte nur einen Störfaktor zu sehen vermag und das Bild einer „gelenkten Verwaltungswirtschaft“ (Christian Lindner) oder gar einer „Planwirtschaft“ (Trumpf-Vorstandschefin Nicola Leibinger-Kammüller) an die Wand malt, ist dabei ebenso kritisch zu hinterfragen wie eine Haltung, die im Staat per se den besseren Unternehmer mit größerer strategischer Weitsicht vermutet (so etwa die Star-Ökonomin Mariana Mazzucato).

Systemische Wirtschaftskompetenz lässt sich wohl am ehesten mit Nachhaltigkeitskompetenz oder intelligenter und möglichst empathischer Interventionskompetenz übersetzen: Nachhaltigkeitskompetenz, weil eine zukunftsfähige Wirtschaft zugleich eine solare, biodiversitätsfördernde und ressourcenschlanke Kreislaufwirtschaft sein muss. Intelligente und empathische Interventionskompetenz, weil Wirtschaftspolitik zugleich die Innovativen ermutigen, den Vorsichtigen und Ängstlichen Sicherheit vermitteln und dem Gemeinwohl dienen muss.  Dass das leichter gesagt als getan ist, wird niemand in Frage stellen. Aber dieses Dreieck aus Innovation, Sicherheit und Gemeinwohl stets im Blick zu behalten, ist ein Muss für jeden, der sich demokratischen Wahlen stellt. Hier ist der Begriff der „Alternativlosigkeit“ (Angela Merkel) einmal angebracht.

Last, but not least muss sich systemische Wirtschaftskompetenz heute mit den tektonischen Verschiebungen im Weltwirtschaftssystem und der internationalen Politik befassen. Das deutsche Modell aus hoher industrieller Technologiekompetenz, niedrigen Energiepreisen für die Industrie, günstigen Rohstoffimporten und sehr starker Exportorientierung steht aus mehreren Gründen unter Druck, wegen gestiegener und stark fluktuierender Energiepreise im Gefolge des Ukraine-Krieges, weil andere Staaten – etwa China im Bereich der Elektromobilität – nunmehr selbst Hochtechnologieproduzenten sind und auf entsprechende Exporte setzen, weil die Länder des globalen Südens sich nicht mehr auf die Rolle von bloßen Rohstofflieferanten reduzieren lassen wollen und auf weniger asymmetrische Handelsbeziehungen pochen, weil Netzwerke von Autokraten und Populisten die internationale Ordnung und ihre Regeln zunehmend unterhöhlen.

Auch gibt es selbstverschuldete Ursachen der Krise des „Modells Deutschland“.  Wegen der extremen Exportorientierung der Bundesrepublik ist die Binnenökonomie vernachlässigt worden, die doch das Fundament von allem bildet. Das reicht vom Fachkräftemangel im Handwerk über Digitalisierungsdefizite in Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen bis zur Mangelhaftigkeit der Infrastrukturunterhaltung und -modernisierung. An bestimmten Technologien und Produktionsmethoden, etwa fossilen Großkraftwerken, dem Verbrennungsmotor, der industrialisierten Landwirtschaft oder besonders giftigen Pestiziden, ist zu lange festgehalten worden oder wird es noch immer.

Und auch bei den vielen sozio-ökonomischen Innovationen, die sich heute weltweit zeigen, von der Share über die Repair bis zur Care Economy, von der Gemeinwohlökonomie über die ökologische bis zur solidarischen Ökonomie, ist Deutschland im internationalen Vergleich nicht vorne mit dabei. Sicher, viele dieser Innovationen sind einstweilen Nischenphänomene. Aber die Geschichte der Ökonomie lehrt uns, dass aus den Nischenmärkten von heute die Mainstreammärkte von morgen werden können. Wir wissen: Was in Garagen beginnt und von Freaks vorangetrieben wird, kann die Welt verändern.

Um diese Herausforderungen und Defizite aufgeklärt und selbstbewusst annehmen und bearbeiten zu können, ist systemische Wirtschaftskompetenz erforderlich. Wirtschaftspolitikerinnen und -politiker, die diese Fähigkeit besitzen, werden sich eher als langfristig ausgerichtete Ordnungspolitiker denn als tagespolitisch orientierte „Rettungspolitiker“ begreifen, werden nicht primär Bewahrungsversprechen abgeben und Transformationssubventionen aller Art für notwendige Veränderungen in Aussicht stellen, sondern auf Ermöglichungen, Ermächtigungen („Empowerment“) und Erzählungen über eine gute Zukunft setzen.

Kommunikative Wirtschaftskompetenz

Apropos Erzählungen. Das Sprechen über Wirtschaft erfordert kommunikative Kompetenz. Sicher, wo keine inhaltliche Substanz ist, nützen auch die wortreichsten „Narrative“ nichts, um ein geflügeltes Wort dieser Tage zu verwenden. Aber tatsächlich geht es beim Sprechen über die Ökonomie und erst recht über die wirtschaftliche Zukunft immer um beides, ums Zählen ebenso wie ums Erzählen, um die Versorgung mit notwendigen Gütern und Dienstleistungen, das Schaffen von Werten und Möglichkeiten der Einkommenserzielung ebenso wie um Imaginationskraft und Fantasie, um – wie sich in Anlehnung an Karl Marx sagen ließe – das „Reich der Notwendigkeiten“ ebenso wie um das „Reich der Freiheit“.

Für die Kommunikation des realen wirtschaftspolitischen Handelns in der Gegenwart ist die Vermittlung von Eindeutigkeit, Sicherheit und Klarheit essenziell, denn nur so kann Vertrauen bei den Wirtschaftssubjekten entstehen. Nicht umsonst heißt es in der Wirtschaftspsychologie, Investitions- wie Konsumwillige seien in der Marktwirtschaft wie „scheue Rehe“, die auf Unklarheit oder schwer einzuschätzende Gefahren mit Angststarre, Abwarten oder Fluchtverhalten reagieren. Mit anderen Worten: Klare und faktenbasierte Kommunikation schafft Sicherheit, selbst dann, wenn es um die Vermittlung von Zumutungen oder Risiken geht – zumindest, wenn diese gerecht verteilt werden.  

Leider muss die gegenwärtige Bundesregierung als Paradebeispiel dafür gelten, wie man wirtschaftspolitisch nicht kommunizieren sollte. Wenn zu einem wirtschafts-, klima-, steuer- oder sozialpolitischen Thema täglich drei Meinungen geäußert werden, die sich oft diametral widersprechen, dann sollte man sich nicht wundern, wenn bei Unternehmen und Verbraucherinnen und Verbrauchern der Attentismus um sich greift und Entscheidungen zurückgestellt werden. Da die drei Koalitionsparteien im heraufziehenden Wahlkampf eher ihre je eigenen und sehr unterschiedlichen Perspektiven in den Vordergrund stellen dürften als eine gemeinsame und verlässliche Regierungsposition zu Fragen der Wirtschaftspolitik zu vertreten, wird sich an dem kommunikativen Desaster wohl nur wenig ändern. Man kann nur hoffen, mit dieser Einschätzung falsch zu liegen.

Zu trennen von aktualitätsbezogener Kommunikation in Sachen Wirtschaft ist das visionäre Sprechen über die Zukunft der Wirtschaft, auch wenn zwischen beiden natürlich ein erkennbarer Zusammenhang bestehen sollte. Das eigene Wirken mit großen Überschriften zu versehen, ist in der Politik und erst recht in der Regierung nie ganz risikofrei, vor allem wenn Soll und Ist im politischen Alltag stark voneinander abweichen. Aber beim Nachdenken über große wirtschaftspolitische Visionen kommen vielen von uns doch immer wieder bestimmte Slogans in den Sinn: Von Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ bis Deng Xiaopings „Reich werden ist ruhmreich“, von Hermann Scheers „Solare(r) Weltwirtschaft“ bis Tim Jacksons „Wohlstand ohne Wachstum“, von Helmut Kohls „blühenden Landschaften“ bis Elinor Ostroms Allmende-Verfassung „Jenseits von Staat und Markt“.

Gleich, unter welche Überschrift man sein wirtschaftspolitisches oder wirtschaftswissenschaftliches Wirken und Wollen stellt, so gilt doch für alle: Einladende Geschichten über gutes Wirtschaften können nicht allein mit dem Rechenstift geschrieben werden, es braucht dafür auch Vorstellungskraft. Ob es den Parteien gelingt, positive Zukunftserzählungen über eine erstrebenswerte Wirtschaft zu entwickeln, wird maßgeblich darüber mitentscheiden, ob sie selbst eine Zukunft haben. Dabei sollten sie sich nicht von dem einengenden Prinzip „Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt“ (Günter Rexrodt) leiten lassen, sondern ihren Blick weiten. Es gibt viele Menschen in Wirtschaft, Wissenschaft, Lehre, Gewerkschaften, Medien und Gesamtgesellschaft, die das Interesse und die Kompetenz haben, an der Entwicklung von ökonomischen Positivszenarien mitzuwirken. Dieses kreative und produktive Potenzial zu heben, ist heute ein wichtiger Baustein dialogischer und kommunikativer Wirtschaftskompetenz.

Und wer hat nun Wirtschaftskompetenz?

Fassen wir zusammen: Wirtschaftskompetenz erfordert fachliche, systemische und kommunikative Kompetenz. Sie muss Sinn stiften, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Blick haben, erfolgsorientiertes pragmatisches Handeln im Hier und Jetzt ebenso beherrschen wie das Verständnis größerer Zusammenhänge und das Entwerfen positiver Zukunftserzählungen und Zukunftsbilder, ohne dabei ins Abstrakte und Wolkige zu verfallen. In einer Person wird sich dieser Kompetenzmix wahrscheinlich nur selten finden, aber ab und an vielleicht doch.

Dass das hier entwickelte Verständnis von ganzheitlicher Wirtschaftskompetenz von den meisten Wählerinnen und Wählern geteilt wird, darf wohl nicht ohne weiteres angenommen werden. Zu sehr haben wir uns als Gesellschaft daran gewöhnt, Wirtschaftskompetenz eng zu fassen, als Fähigkeit, Wirtschaftswachstum zu generieren, Vollbeschäftigung zu erreichen, ein hohes Handelsvolumen zu erzielen und den Geldwert stabil zu halten. Doch ist die Fixierung auf dieses „magische Viereck“, das Wirtschaftsminister Karl Schiller im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes 1967 als neue Norm etablierte, in der Wirtschaftswelt von heute und morgen noch zeitgemäß? In Teilen durchaus, wenn auch an die neuen Realitäten angepasst, aber was ist mit Ressourcenverbrauch, Klimawandel und Naturzerstörung, was mit gesellschaftlicher Sinnstiftung und sozialem Zusammenhalt, was mit sozialer, internationaler und intergenerativer Gerechtigkeit?

Auf diese Fragen geben Menschen und Parteien unterschiedliche Antworten. Und das ist in pluralistischen Gesellschaften auch gut so. Aber in Zukunft wird gelten müssen: Wer wirklich will, dass ihm oder ihr Wirtschaftskompetenz zugeschrieben wird, der darf nicht naturvergessen, gesellschaftsvergessen oder geschichtsvergessen agieren. Oder um Niklas Luhmanns scharfsinniges Diktum ins Positive zu kehren: Der Erfolg einer nachhaltigen Wirtschaft fördert zugleich gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. ■

Reinhard Loske
Reinhard Loske ist Professor an der Universität Witten/Herdecke sowie Mitglied im Vorstand des Berliner Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung und im Beirat des Bonner Next Economy Labs. Zuvor war er u.a. Präsident der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Rheinland-Pfalz und Senator für Umwelt, Bau, Verkehr und Europa der Freien Hansestadt Bremen. In Bremen war Loske zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der GEWOBA, einem Unternehmen der Wohnungswirtschaft sowie Aufsichtsratsmitglied der Hafenmanagementgesellschaft bremenports. Zuletzt von ihm erschienen: Ökonomie(n) mit Zukunft. Jenseits der Wachstumsillusion (Natur und Text, 2023).
Foto: Julia Zimmermann

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