Unruhe – Ralf Konersmann über ein Leitbild der Moderne

Unruhe

über ein Leitbild der Moderne

von Ralf Konersmann

Lange Zeit war der Begriff des Leitbildes verpönt. Der 1967 von Theodor W. Adorno für eine Sammlung philosophischer Essays gewählte Titel Ohne Leitbild war Programm. Keinesfalls durfte der Lauf der Dinge durch die Befangenheiten des Augenblicks behindert werden, die Zukunft sollte offen sein.

Geschichtsphilosophisch war der Verzicht konsequent, aber er war auch unpolitisch. Die Absage ignorierte die Tatsache, dass die Gegenwart ihre Leitbilder längst schon besitzt und dass diese von den Leitmedien und der Politik, von Wissenschaft und Werbung ständig in Anspruch genommen werden – Leitbilder im Übrigen, die kaum jemals als solche ausgewiesen sind und, weil sie sich gleichsam von selbst verstehen, umso überzeugender wirken.

Zu dieser Art Leitbilder, die in ausgesuchten Momenten machtvoll aufscheinen, ansonsten aber im Bereich des kulturell Unbewussten zu Hause sind, gehört die Unruhe. Die Unruhe ist da, sie ist überall, tritt aber kaum jemals rein als solche hervor. Und doch wissen wir alle nur zu gut, was es heißt, dass wir vorwärtskommen müssen, dass wer nicht kämpft, schon verloren hat, dass wir die Hände nicht in den Schoß legen dürfen und öfter mal was Neues anfangen müssen. Die alltagssprachlichen Echos der Unruhe sind uns allen vertraut, und es wäre falsch zu meinen, hier geschähe etwas heimlich oder im Verborgenen. Der Konsens der Unruhe ist mit Händen zu greifen und braucht, eben weil das Einvernehmen total ist, weder überprüft noch gerechtfertigt zu werden. In diesem Klima fragloser Akzeptanz dient uns das Abc der Unruhe als eine Art Kompass, der uns durch den Tag führt und der uns die Stichworte liefert, wenn es gilt, das Leben so zu leben, wie es heute gelebt sein will. Unruhe – Ralf Konersmann über ein Leitbild der Moderne weiterlesen

Alles wird infrage gestellt werden – Günter Wallraff im Interview

Alles wird infrage gestellt werden

Interview mit Günter Wallraff

 

Herr Wallraff, der Begriff der Arbeit ist eng mit der Vorstellung von gesellschaftlichem Zusammenleben, von Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie verbunden. Hängt in einer Gesellschaft letztlich alles davon ab, welche Rolle der Arbeit zugesprochen wird, wie sie definiert und praktiziert wird? Was ist Ihre Definition von Arbeit?

Günter Wallraff ist durch diverse Reportagen über deutsche Großunternehmen bekannt geworden. Nach der zehnten Klasse verließ er das Gymnasium und begann eine Buchhändlerlehre, die er 1962 abschloss. Aufgrund seiner beharrlichen Weigerung eine Waffe in die Hand zu nehmen, wurde er beim Militärdienst zehn Monate lang schikaniert. Wallraff führte Tagebuch, aber die Bundeswehr verlangte von ihm, jegliche Veröffentlichung zu unterlassen. Als er das ablehnte, wurde er in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie des Bundeswehrlazaretts Koblenz eingewiesen. Nach einigen Wochen wurde er, wie er sagt, mit dem „Ehrentitel abnorme Persönlichkeit, für Frieden und Krieg untauglich, Tauglichkeitsgrad 6” wieder in die Freiheit entlassen. Die Veröffentlichung seiner Tagebücher aus der Zeit beim Militär war seine erste Enthüllungsgeschichte.

Arbeit sollte kein Selbstzweck sein – wie es in unserer Gesellschaft inzwischen leider Realität geworden ist. Das endet in Arbeitszwang, in „Arbeit um jeden Preis“ und führt dann dazu, dass diejenigen, die keine Arbeit haben, jede Arbeit verrichten, um dazuzugehören. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die den Menschen danach beurteilt, was er leistet und nicht, was er erleidet. Zugleich hat sich die Bewertung von Leistung und Arbeit ins Gegenteil verkehrt, so dass die Menschen, die oftmals am meisten leisten, die größten Entbehrungen auf sich nehmen, die eigentlichen Dienste an der Allgemeinheit leisten, dafür auch noch verachtet und in der gesellschaftlichen Rangordnung nach unten gedrängt werden – dies betrifft zum Beispiel die Pflegeberufe. Das ist eine Schieflage, die die ganze Gesellschaft ruiniert, die die Demokratie unterhöhlt. Wir leben in einer Situation, in der sich eine schmale Gesellschaftsschicht über die anderen erhebt, sich selbst Vorbildcharakter zuspricht, sich selbst feiert und mit dem Rest der Gesellschaft nichts mehr zu tun hat. Sie definieren Arbeit nur als wertvoll, wenn sie ihnen die Taschen füllt – den Gebrauchswert, den Gehalt, den sinnstiftende Charakter von Arbeit kümmert sie nicht.

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Arbeit über alles? – Interview mit David Graeber

Arbeit über alles?

 Interview mit David Graeber

Herr Graeber, mit Ihrem aktuellen Buch „Bullshit Jobs“ scheinen Sie den Nerv der Zeit getroffen haben. Haben Sie dieses Echo der Öffentlichkeit erwartet?

David Graeber
David Graeber, geboren 1961 in den Vereinigten Staaten, war bis zu seiner umstrittenen Entlassung 2007 Professor für Anthropologie an der Yale University. Heute unterrichtet er an der London School of Economics and Political Science. Er ist bekennender Anarchist und Mitglied der „Industrial Workers of the World“. Graeber ist ein Vordenker der Occupy-Bewegung und Autor des Weltbestsellers Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Foto: Wolfram Bernhardt

Das Buch geht auf den Essay „Über das Phänomen der Bullshit-Jobs“ zurück, den ich 2013 für die neue Zeitschrift Strike! geschrieben habe. In diesem Essay bin ich der Vermutung nachgegangen, dass es viele Jobs gibt, die vollkommen überflüssig sind. Fragt man sich nicht bei unglaublich vielen Jobs, die in den letzten Jahren neu geschaffen wurden, wozu sie eigentlich gut sind? Ich spreche von Jobs, bei denen sich selbst diejenigen, die sie ausführen, die Frage nach dem Sinn ihrer Tätigkeit stellen. Aber das öffentliche Echo auf diesen Essay hatten weder ich noch die Magazinmacher von Strike! erwartet: Innerhalb weniger Tage war der Artikel in mindestens ein Dutzend Sprachen übersetzt worden. Zeitungen von der Schweiz bis Australien druckten ihn nach. Die Website von Strike! brach unter dem Ansturm der Anfragen immer wieder zusammen und ich erhielt zahlreiche Zuschriften von mir völlig unbekannten Personen, die meine These bestätigten; die mir in aller Offenheit von der Sinnlosigkeit ihrer Arbeit berichteten. Im Januar 2015 führte dann das Meinungsforschungsinstitut YouGov eine Umfrage durch und das Ergebnis war, dass 35 Prozent der deutschen und sogar 37 Prozent der britischen Arbeitnehmer angaben, dass ihr Job keinen sinnvollen Beitrag für die Welt leistet. Arbeit über alles? – Interview mit David Graeber weiterlesen

Das gute Leben und die Freiheit – Interview mit Fritz Reheis

Das gute Leben und die Freiheit

Interview mit Fritz Reheis

 

Herr Reheis, viele Menschen fühlen sich heute zu etwas gezwungen, was sie nicht mögen: ob lange Überstunden, sinnlose Arbeit, ständiger Konsumzwang oder ein Leben in überfüllten Städten – Unzufriedenheit macht sich breit über die „Gesellschaft“ ohne genau zu verstehen, was damit gemeint ist und wie sie wirkt. Wie kann man als Teil von etwas leben, was man nicht versteht?

Fritz Reheis
Prof. Dr. Fritz Reheis war Professor für politische Theorie an der Universität Bamberg und ist seit seiner Pensionierung als Lehrbeauftragter tätig. Er ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Foto: Weissbach

Diese Beobachtung trifft voll zu. Auf Unzufriedenheit und Unverständnis über die Gründe dafür reagieren Menschen unterschiedlich, je nach ihrer individuellen Situation. Die meisten versuchen, sich eine Nische einzurichten und ihre Ansprüche ggf. herunterzuschrauben, auch in Bezug auf die Werte, die ihnen eigentlich wichtig sind. Viele werden durch Angst zur Suche nach Sündenböcken getrieben, denen die Schuld an der Situation zugeschoben werden kann. Etliche reagieren auch mit Hass, der sich meist in psychischer oder physischer Gewalt ausdrückt, wobei die Opfer selten jene sind, die die Situation tatsächlich verursacht haben. Es sind die Schwachen und Schwächsten, die unter diesem hilflosen Versuch der Selbstaufwertung und Sinnstiftung am meisten leiden müssen.

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Der Druck muss viel stärker werden – Interview mit Jakob von Uexküll

Der Druck muss viel stärker werden

Interview mit Jakob von Uexküll

 

Herr von Uexküll, Sie sind der Überzeugung, dass Lösungen für die großen Herausforderungen bereits existieren. Warum verschärfen sich dennoch die großen Probleme wie etwa der Klimawandel oder die Ungleichheit?

Jakob von Uexküll ist Gründer des World Future Council (2007) und des Right Livelihood Award (1980), der auch als “Alternativer Nobelpreis” bezeichnet wird. Foto: Karl Gabor

Weil der politische Druck nicht stark genug ist. Wir freuen uns über existierende Lösungen, sogenannte „best practises“. Aber ohne „best policies“, das heißt verbindliche beispielhafte Gesetze, gehen die Veränderungen viel zu langsam. Daher habe ich den World Future Council (Weltzukunftsrat) gegründet, um solche Gesetze bekannter zu machen und weltweit zu verbreiten helfen.

Der alternative Nobelpreis wurde häufig an Personen und Projekte aus Entwicklungsländern vergeben. Sind die Menschen dort innovativer als in den gesättigten Volkswirtschaften?

Gezwungenermaßen ist das oft so. Aber dieser Preis schafft auch ein Gleichgewicht, denn es gibt schon viele Preise für Projekte der Industriestaaten. Der Druck muss viel stärker werden – Interview mit Jakob von Uexküll weiterlesen

Warum ändern wir uns nicht, wo doch die Katastrophe auf der Hand liegt? – Interview mit Richard David Precht

Warum ändern wir uns nicht, wo doch die Katastrophe auf der Hand liegt?

Interview mit Richard David Precht

Wir sprachen mit Richard David Precht über den gesellschaftlichen Wandel, was ihn bremst und was auf ihn folgt. Weitere Gespräche mit Richard David Precht sind in den Ausgaben Vernunft und der Jubiläumsausgabe 42 erschienen.

 

Herr Precht, was charakterisiert die heutige Gesellschaft? Was hat die Menschen in der Moderne getragen? Der Glaube an die Vernunft?

Was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält, ist der Wohlstand. Die bürgerliche Gesellschaft, entstanden durch die Erste Industrielle Revolution, stabilisierte sich in dem Maße, in dem mehr und mehr Menschen von ihren Segnungen profitierten. Der Prozess war allerdings ein Schlingerkurs, wie die bewegte Geschichte der Industriestaaten zeigt. Die „Vernunft“, der „Überbau“, mit dem sich die bürgerliche Gesellschaft legitimierte, verhinderte weder zwei Weltkriege noch den Holocaust. Wenn wir heute fürchten, dass der Affekt die Vernunft ersetzt, so muss man ehrlicherweise sagen: Das war nie anders. Die sozialen Medien machen die Macht des Affektes nur sichtbarer. Gleichwohl ist es nicht umsonst, die „Vernunft“ als Korrektiv zu beschwören – und sei es auch oft nur als „normative Kraft des Fiktiven“.

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Die Veränderung liegt in unserer Hand – Interview mit Sabine Nuss

Die Veränderung liegt in unserer Hand

Interview mit Sabine Nuss

„Wirtschaft anders denken“ ist der Claim der Monatszeitung OXI in der Sie regelmäßig eine Kolumne schreiben. Was kritisieren Sie an der Art und Weise wie Wirtschaft derzeit gedacht wird?

Sabine Nuss hat zu Eigentum im digitalen Kapitalismus promoviert, sie ist Kolumnistin beim Wirtschaftsmagazin OXI und Geschäftsführerin des Karl Dietz Verlags in Berlin. Ihre Webpage: nuss.in-berlin.de

Alles. Es irritiert mich beispielsweise immer wieder von Neuem, wenn ich Abends vor der Tagesschau sitze und Börsennachrichten gucke, wie da über die „Die Wirtschaft“ berichtet wird. Genauso wie über „Das Wetter“, was dann nach den Nachrichten kommt: Die Aktien steigen, die Kurse fallen, die Märkte reagieren, die Wirtschaft wächst, die Preise sinken oder steigen, etc. pp – was auch immer – achten Sie mal auf die Sprechweise – es wird geredet, als sei „die Wirtschaft“ selbst ein lebender anonymer und außerhalb von uns existierender Organismus, einer, aus dem heraus Krisen über uns hereinbrechen wie ein Gewitter. Die Veränderung liegt in unserer Hand – Interview mit Sabine Nuss weiterlesen

Die Politik – maßgebend oder maßlos?

Die Politik – maßgebend oder maßlos?

von Wolfram Bernhardt

Politik steht für die Regelung von Angelegenheiten, die das Gemeinwesen betreffen. Aber woran kann man die Qualität von Politik bemessen? Hierür spielt das Thema Gerechtigkeit eine zentrale Rolle – oder vielmehr: sollte eine zentrale Rolle spielen. Schließlich steht Gerechtigkeit dafür, dass die Bedürfnisse aller berücksichtigt werden und man einen ausgewogenen Kompromiss im Blick hat. Aber was ist gerecht? Was nicht? Welches Verständnis von Gerechtigkeit legt man zugrunde? Und ab wann fängt Ungleichheit an, unmenschlich zu sein? Die Politik – maßgebend oder maßlos? weiterlesen

„Im Herzen bin ich Anarchist“ – Reinhold Messner im Interview

„Im Herzen bin ich Anarchist“

Im Gespräch mit Reinhold Messner über gesellschaftlichen Wandel

Foto: Wolfram Bernhardt

 

Herr Messner, wie definieren Sie Freiheit?

Für mich persönlich ist Freiheit die Möglichkeit, mich nach meinen Vorstellungen entfalten zu können. Aber ich möchte gleich ergänzen: nur in dem Maße, wie ich dabei die Entfaltung der anderen nicht störe. Ich bin im Herzen ein Anarchist, das sage ich ganz offen, und zwar in der klassischen Definition des Anarchismus: keine Macht für niemand! Niemand soll mich von oben herab regieren, genauso wenig wie ich jemanden von oben herab dirigieren will. Wenn ich diesen Freiraum habe, heißt das natürlich auch, dass ich voll verantwortlich bin für mein Tun.

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Nachhaltige Wirtschaft braucht die Finanzwende

Nachhaltige Wirtschaft braucht die Finanzwende

Interview mit Gerhard Schick

Sie haben sich aus der Politik verabschiedet, weil Sie der Meinung sind, dass eine grundlegende Reform im Finanzwesen derzeit nur erzielt werden kann, wenn die Zivilgesellschaft den Druck auf die parlamentarische Politik erhöht. Ist das eine Kapitulation des Politikers Gerhard Schick?

Gerhard Schick war von 2005 bis 2018 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit Juli 2018 ist er Vorstand der „Bürgerbewegung Finanzwende“, die sich für eine nachhaltige Finanzwirtschaft einsetzt.

Nein, ich war und bin begeisterter Parlamentarier und der Schritt ist mir nicht leicht gefallen. Doch die kommende Aufgabe ist wichtiger: ein zivilgesellschaftliches Gegengewicht zur Finanzbranche aufzubauen. Die Sorge, dass sich der Finanzsektor zu sehr von seiner eigentlich dienenden Funktion für die Gesellschaft verabschiedet hat, durchzieht alle Schichten und politische Richtungen. Das gehen wir jetzt an und sammeln interessierte Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaftler und Finanzmarktexperten unter dem Dach der Finanzwende. Das erfordert meine ganze Kraft und geht nicht vom Parlament aus. Nachhaltige Wirtschaft braucht die Finanzwende weiterlesen